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Vita Félicie Affolter

Geboren (am 22. Februar 1926) und aufgewachsen ist Félicie Affolter in St. Gallen, Schweiz. Dort besuchte sie die Elementar- und Sekundarschule, anschliessend das kantonale Lehrerseminar in Rorschach, wo sie mit dem Lehrpatent abschloss.

Das unauffällige Kind und seine Entwicklung, Beobachtungen und deren Interpretationen

Erste Erfahrungen im Unterrichten von Kindern führten Affolter zu einem Konflikt und zu entsprechenden Fragen: Waren die in der Lehrerausbildung erhaltenen pädagogischen Anleitungen „Glaubenssache“ oder beruhten sie auf „Wissen“? Damit war Affolter in einem Dilemma, das sie im Umgang mit Pädagogen und Psychologen immer wieder beschäftigen sollte: Welche von deren Theorien beruhte auf Beobachtungen und welche auf Interpretationen?

Mit diesem Problem beschäftigt, begann sie das Studium der Kinderpsychologie bei Jean Piaget an der Universität Genf. Sie schloss es mit dem „Diplôme gėnėral en Psychologie“ und dem Lizenziat ab.

Zwischen den Studienzeiten lehrte Affolter einige Jahre an einer Sprachheilschule. Dabei kam sie in Kontakt mit gehörlosen Kindern und deren Erwerb der gesprochenen Sprache. Dieser Kontakt führte zu einer weiteren Fragestellung: „Wie hängen Sprache und Denken zusammen“?

Zusammenhang der Entwicklung von Sprache und Denken

Affolter begann, hörende und gehörlose Kinder in nicht verbalen operativen Leistungen nach Piaget zu vergleichen -- Grundlage für ihre Diplom-/Lizenziatsarbeit bei Piaget. Nach dem Abschluss in Genf führte sie diese Vergleiche in Teilzeitarbeit am „Centre d’Epistėmologie“ in Genf unter Leitung von J. Piaget während eines Jahres weiter.

Nach anschliessenden Lehrerfahrungen bei den Kindern der Sprachheilschule bot sich die Gelegenheit zu einem Weiterstudium. Die Universität Heidelberg/DE organisierte zum ersten Mal seit Kriegsende ein Ausbildungsprogramm für Lehrer an Schulen für Gehörlose und für Kinder mit Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung. F. Affolter konnte als Schweizerin daran teilnehmen und schloss nach zwei Jahren, 1953, mit dem entsprechenden Diplom ab. Zurück in der Schweiz lehrte F. Affolter nun kleinen gehörlosen Kindern Sprache. „Ein prächtiges Unterfangen!“, wie sie immer wieder selber betonte.

Neben den gehörlosen Kindern kamen auch Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung in die Sprachheilschule. Es waren Kinder, die wohl hörten, aber doch nicht hörten. Sie wurden damals als „hörstumm“ bezeichnet. Dann waren weitere Kinder da, die aus unbekannten Gründen in der Entwicklung der Sprache Schwierigkeiten aufwiesen.

Zur Problematik „Sprache und Denken“, verbunden mit Gehörlosigkeit, kamen zwei weitere Aspekte dazu: „Was heisst „Hören als Wahrnehmung?“ und „Was hat Wahrnehmung mit der Entwicklung von Sprache zu tun?“.

Wahrnehmung und Sprache - Voraussetzungen zur Entwicklung der Sprache

Affolter wurde sich bewusst, dass sie mehr Wissen und mehr fachlichen Austausch benötigte. Dank Piaget und seinen Mitarbeitern konnte sie 1959 ein gesponsertes „postgraduate Program“ am „Institute of Child Development“ der University of Minnesota in Minneapolis/USA antreten. Damit begann ein spannender neuer Lebensabschnitt, politisch/kulturell und fachlich.

In politisch/kultureller Hinsicht war die USA in Aufbruchsstimmung, da ein Russe und nicht ein Amerikaner zuerst in den Weltraum vorgestossen war. Die Amerikaner mit Kennedy als Präsidenten wollten aufholen und ihr Wissen vermehren. Dies äusserte sich durch Offenheit und die Bereitschaft zu Diskussionen mit anderen. So wurde Affolter sehr oft nach ihrer Meinung gefragt, was oder wie sie als Europäerin über dies oder das denke.

In fachlicher Hinsicht stellten die Berater an der Universität für Affolter ein ausgezeichnetes Studienprogramm zusammen, sobald sie von ihrem Interesse an Sprache und Hören erfuhren. Für ihr Hauptgebiet war die Abteilung „Audiologie und Sprachpathologie“, einschliesslich „Störungen der Kommunikation“ mit den Professoren Frank Lassman, Hildred Schuell und Jerry Siegel zuständig. Dazu kam eine Sommer Session mit Wever, einem Mitarbeiter von Békésy, über dessen Hörtheorien. Überdies war da James Jenkins, Spezialist für Affolters Nebengebiet „Psycholinguistik“. Jenkins kam vom Departement der Psychologie. Dort war auch die Geburtsstätte der „Behaviortheorie von Skinner“, die mit ihrem „conditioning“ in den Nachkriegsjahren, angetrieben von deutschen Psychologen, auch in der Schweiz Eingang gefunden hatte.

Die Sponsoren von Affolter verlängerten ihre Stipendiums Zeit und ermöglichten ihr so eine zusätzliche Studienreise zu Gehörlosenschulen verschiedener Staaten der USA.

Nach dem Abschluss mit einem Master of Sciences in Audiologie und Sprachpathologie kehrte Affolter in die Schweiz zurück. Dort erwarteten sie neue Aufgaben, da unterdessen die Schweizerische Invalidenversicherung in Kraft getreten war. Plötzlich stand Geld für die Früherfassung von Kindern mit Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung zur Verfügung. Affolter konnte somit ihr neu erworbenes Wissen anwenden: In der Früherfassung sprachauffälliger Kinder, unter anderem mit Hörabklärungen und dem Anpassen von Hörgeräten. Zusätzlich erhielt Affolter einen Lehrauftrag am Heilpädagogischen Institut der Universität Fribourg für Logopädie, eingeschlossen die Gründung eines pädoaudiologischen Zentrums am Kantonsspital St. Gallen.

Affolter wurde sich bewusst, dass solche Anforderungen und die damit zusammenhängende Verantwortung weiteres Wissen verlangten. Sie beschloss, ihr Studium in den USA fortzusetzen und einen „Ph. D.“ (philosophical Doctor) zu erwerben. Doch die Situation in den USA hatte sich seit Kennedys Tod und unter der Präsidentschaft von Nixon im akademisch-kulturellen Umfeld drastisch verändert. Ihre Anfragen an verschiedene Universtäten wurden negativ beantwortet und damit begründet, dass für ausländische Studenten kein Geld vorhanden wäre.

Nach vielen Bemühungen erhielt Affolter dann doch eine Stelle als Assistentin an der Pennsylvania State University, mitten im „nowhere der Allegeny mountains“. So verbrachte sie drei Jahre im republikanischen Pennsylvania und erlebte eine Zeit, die sich eindrücklich von ihrer Minnesota Zeit unterschied. Es war die Zeit der sogenannten „68er Jahre“, eine Zeit der Studentenunruhen. Diese hatten in Kalifornien begonnen und sich rasch nach Ohio ausgebreitet – und darauf nach Pennsylvania an die Pennstate Universität. Und dort wurde Affolter mit ihrem Doktorprogramm mitten in den Strudel einbezogen. So musste z.B. die Verteidigung ihrer Doktorarbeit kurzfristig wegen der Unruhen vom Campus weg verlegt werden. Einige Zeit später war ihr Doktorprogramm in „Speech Sciences“ erfolgreich abgeschlossen (Affolter, 1970).

Sie weilte kurz darauf zu einem Abschiedsbesuch bei ihren Professoren und Freunden an der Universität von Minnesota. Hier erfuhr sie von der Gründung eines „Center for Human Learning“ an der Universität von Minnesota. Initiator war Prof. James Jenkins, ihr früherer Advisor in Psycholinguistik. Für Affolter war es wie eine kleine Krönung ihrer USA-Zeit: Als Gegenpol zu „Behavior Modification von Skinner“ mit Begriffen wie Häufigkeit, Belohnen/Bestrafen, Motivation – und unzähligen Laborversuchen an Ratten, nun ein gewaltiger Schritt weiter in die Komplexität des menschlichen Lernens („Human Learning“).

1970 kehrte Affolter in die Schweiz zurück. Damit begann ein weiterer wichtiger Lebensabschnitt: Forschung im Zusammenhang mit klinischer Arbeit, ermöglicht durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (SNF), mit einem dynamischen Team von Mitarbeitern und einem Kreis stimulierender Fachleute, in der Schweiz und in den USA.

Klinische Arbeit und Forschung

Mehrere Jahre dauerte der Aufbau des pädoaudiologischen Zentrums am Kantonsspital St.Gallen. Die zugewiesenen Kinder mit Beeinträchtigungen sprachlicher und nicht sprachlicher Leistungen waren jünger, waren schwerer beeinträchtigt, kamen von nah und von immer ferneren Wohnorten und brauchten intensive Behandlung und Elternberatung. Das Team wurde sich der Wissenslücken über die Art der Behandlung immer bewusster. Dies lag besonders am Nicht-Wissen dessen, was diesen Kindern fehlte – und dies im Zusammenhang mit dem immer noch bestehenden Mangel an Wissen über die Voraussetzungen zur Sprachentwicklung. Affolter beschloss deshalb, eigene Forschung in enger Verbindung zur klinischen Arbeit durchzuführen. Mit Unterstützung des SNF konnte Affolter die bereits in ihrer Studienzeit aufgeworfenen Fragen umfassend weiter angehen. Sie hatte das Glück, zwei hervorragende Fachleute als Berater vom SNF zugeteilt zu bekommen: Prof. Dr. E. Gautier, Chefarzt der Universitäts-Kinderklinik Lausanne als „Pate“ und Prof. Dr. G. Weber, Chefarzt der Neurochirurgie des Kantonsspitals St. Gallen als Vertreter der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften.

Störungen der Wahrnehmung

Nach fachlichen Meinungsverschiedenheiten mit der Spitalleitung und damit verbundenen politischen Auseinandersetzungen mit dem Kanton St. Gallen konnte Affolters klinische Arbeit im Rahmen eines privaten „Zentrums für Wahrnehmungsstörungen“ (seit 2012 „Stiftung wahrnehmung.ch“) weitergeführt werden. Gleichzeitig wurde unter ihrer Anleitung (und mit der Unterstützung der Gemeinnützigen und Hilfsgesellschaft der Stadt St. Gallen (GHG) eine „Schule für Kinder mit Wahrnehmungsstörungen“ eröffnet.

In den 80er Jahren ging die durch den SNF finanzierte Forschung zu Ende. Affolter besass nun eine grosse Menge von Daten, die vertiefte Analysen und Interpretationen verlangten und schliesslich zu wichtigen Publikationen führten (z.B. Affolter, 1987 oder Affolter & Bischofberger, 2007).

Während der Nationalfondszeit war der Kontakt mit dem Center for Human Learning der University of Minnesota/USA durch einige Kurzbesuche aufrechterhalten worden. Nun versuchte Affolter, diesen Kontakt zu intensivieren und bewarb sich um den Status einer „affiliate person“ mit besonderen Bedingungen. Unter anderem konnte sie den obligatorischen mehrjährigen Aufenthalt am Center for Human Learning in befristete jährliche dreimonatige Aufenthalte umwandeln und diesen auf einen Mitarbeiter (vom St. Galler-Team) ausdehnen. So begann die Zeit der Ausarbeitung des „Affolter-Modells®“.

Das Affolter Modell®

Die grundlegende ursprüngliche Arbeitshypothese von Affolters Forschung bezog sich auf ein Entwicklungsmodell, das eine hierarchisch aufgebauten Folge von Stufen propagierte. Auf eine Stufe A folgt eine Stufe B, dann C, D … . Die Entwicklung von Leistungen der Stufe A sind in diesem Modell Voraussetzung für das Auftreten der Leistungen der Stufe B usw. Dies heisst, die Entwicklung der Leistungen einer Stufe X sind Voraussetzung für die Entwicklung von Leistungen der Stufe Y, wobei eine direkte Abhängigkeit der Leistungen von Stufe Y von den Leistungen der Stufe X angenommen wird. Für die Arbeit mit Kindern hiess dies: Sich versichern, dass das Kind die Leistungen der Stufe X aufweist, bevor man Leistungen der Stufe Y angeht (Inhelder et al.,1974).

Im Laufe der klinischen Arbeit traten Zweifel an diesem Modell auf, und diese wurden zusehends stärker. Forschungsarbeiten, unter anderem verschiedene Querschnittuntersuchungen und insbesondere Langzeitdaten, liessen sich mit diesem Modell der direkten Abhängigkeit zwischen Entwicklungsstufen nicht erklären. Aber ein anderes Modell stand nicht zur Verfügung.

Affolter analysierte die Resultate aus den erwähnten Querschnittuntersuchungen und die Langzeitbefunde. Sie verglich Leistungen entwicklungsunauffälliger Kinder und Kinder mit peripheren Sinnesbeeinträchtigungen (blinde und gehörlose Kinder) mit Leistungen von Kindern mit schweren Beeinträchtigungen in der Sprachentwicklung und Kindern mit tiefgreifenden Entwicklungsproblemen (z.B. Autismus). Im Zentrum ihres Interesses standen insbesondere Wahrnehmungsleistungen, kognitive Leistungen, Nachahmung, Symbolverhalten, Sprache und Motorik.

Da war die Theorie von Piaget mit Interaktion als Basis der Evolution. Da war der Alltag und auch das „nicht sprachliche Lösen von Problemen im Alltag“ (Affolter & Bischofberger, 2007). Affolter begann von „Interaktion im Alltag“ zu sprechen. Sie stellte mit ihren Mitarbeitern unzählige Beobachtungen zusammen. Gemeinsam analysierten und interpretierten sie, und sie begannen immer intensiver, die klinische Arbeit auf die Befunde auszurichten.

Schliesslich kam es zur Geburt des Modells „Wachstum eines Baumes mit seiner Wurzel“. Der Baum wächst dank seiner Wurzel und einer geeigneten Umwelt; aus der Wurzel wachsen Äste, ein Ast nach dem anderen, in einer Reihenfolge, stets in direkter Abhängigkeit von der Wurzel.

Nur mit einem solchen Wurzel/Baum-Modell konnten die Daten der unterschiedlichen Versuchsgruppen eingeordnet werden. Das Modell ist überall dort anwendbar, wo es um Entwicklung geht, d. h. bei unauffälligen Kindern wie bei Kindern mit einer Entwicklungsbeeinträchtigung; aber auch dort, wo es um den Neu- oder Wiedererwerb von Leistungen bei erworbenen Hirnschädigungen und um die Erhaltung und/oder Stimulierung von Hirnfunktionen bei geriatrischen Patienten geht.

Besonders intensiv wurde die praktisch-klinische Zusammenarbeit mit dem „Affolter-Team“ der Rehabilitationsklinik Burgau/DE, auch in Form von zahlreichen Kursen.

Die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Center for Human Learning (später Center for Cognitive Sciences) an der Universität von Minnesota/USA dauerte an, mit jährlichen dreimonatigen Aufenthalten. In regem Austausch mit den dortigen Fachleuten entstanden verschiedene Publikationen und entstehen noch, die auf theoretische Aspekte, aber auch auf die praktische Anwendung des Affolter-Modells® ausgerichtet sind.

1994 wurde Affolter von der Michigan State Universität in East Lansing als „Person of the year in Infant Studies“ gewählt und bekam gleichzeitig einen Auftrag für Vorlesungen und verschiedene Seminare.

1996 wurde Affolter von derselben Universität für die sogenannte „Oyer lecture“ des Jahres gewählt. Gleichzeitig begann ihre Teilnahme an einem einjährigen Symposium über „Movement and Action in Learning and Development“ unter dem Stichwort „From Action to Interaction“ (Stockman, 2004). Für die Organisation und Koordination der speziellen Vorlesungen und Seminarien verschiedener Gastprofessoren des Symposiums war Dr. Ida Stockman, Professorin an den Abteilungen Kommunikationsstörungen und Audiologie der Michigan State Universität verantwortlich.

2008 haben Global Programs and Strategy Alliance (GPS Alliance) und University of Minnesota Alumni Association (UMAA) der Universität von Minnesota Affolter für ihr Lebenswerk mit dem „Distinguished Leadership Award for Internationals“ ausgezeichnet.

 

Referenzen

Affolter, F. (1970). Developmental aspects of auditory and visual perception: an experimental investigation of central mechanisms of auditory and visual processing. Unpublished doctoral dissertation, Pennsylvania State University.

Affolter, F. (1987). Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache. Villingen-Schwenningen: Neckar Verlag.

Affolter, F. & Bischofberger, W. (2007). Nichtsprachliches Lösen von Problemen in Alltagssituationen bei normalen Kindern und Kindern mit Sprachstörungen. Villingen-Schwenningen: Neckar Verlag.

Inhelder, B., Sinclair, H. and Bovet, M. (1974). Learning and the Development of Cognition. London: Routledge & Kegan Paul Ltd.

Stockman, I. (2004). Movement and Action in Learning and Development. Clinical Implications for Pervasive Developmental Disorders. San Diego CA: Elsevier Academic Press.

https://global.umn.edu/honors/dlai/08_affolter.html): Distinguished Leadership Award for Internationals, 2008 Recipients: Dr. Félicie Affolter, Switzerland, M. S. Speech Pathology (1959).